Oktav-Spreizung bei der Gitarre?

Jürg Hochweber, Wettingen, Februar 2022 

Seit Jahrhunderten haben Musiktheoretiker und Instrumentenbauerinnen getüftelt und nach der besten Stimmung geforscht. Und schon oft glaubte man, nun die ultimative Lösung gefunden zu haben.  Dass Intervalle mit einfachen Schwingungsverhältnissen wie 1:2, 2:3 konsonant klingen und komplizierte Verhältnisse wie 17:23 dissonant, weiss man schon sehr lange. Wobei ein konsonantes Intervall nicht unbedingt schön heisst, sondern möglichst "miteinander verschmelzend". Eine Oktave ist ja nicht besonders aufregend. Es ging bei der Suche im Wesentlichen darum, die Terzen oder Quinten möglichst rein zu stimmen, und immer wieder gab es Oberschlaue, die meinten, die perfekte Stimmung gefunden zu haben und z.B. an der Bundeinteilung herumbastelten. Heute wissen wir, dass es "die" perfekte Stimmung nicht gibt, es ist immer ein Kompromiss zwischen verschiedenen Unreinheiten. So wurde im Barock lange mitteltönige Stimmungen gebraucht, die zwar in Tonarten mit wenigen Vorzeichen gute grosse Terzen und ziemlich gute Quinten ergaben, aber die Tonarten mit vielen Vorzeichen ziemlich übel tönen liessen.  

Die gleichstufige Stimmung, wie wir sie heute haben, hat leicht verstimmte Quinten und nicht so reine Terzen, dafür sind alle Tonarten gleichwertig. 

 Was in den traditionellen Stimmungen nie angezweifelt wurde, ist die Reinheit der Oktaven.  
Doch stimmt das wirklich? Professionelle Klavierstimmer/innen wissen, dass die Oktaven, besonders die ganz tiefen, leicht gespreizt (oder gestreckt) werden müssen, damit ein guter Klang entsteht, das heisst, die tiefen Töne müssen noch etwas tiefer und die Hohen noch höher gestimmt werden. Schuld daran ist die sogenannte Inharmonizität der Saiten. Inharmonizität besagt, dass die Oberton-Frequenzen bei einer Saite nicht genau ganzzahlige Vielfache der Grundtonfrequenz sind, sondern wegen der Steifigkeit der Saiten etwas höher.

Abb. 1

Je dicker, kürzer und entspannter eine Saite, desto mehr tritt dieser Effekt der Inharmonizität auf. Das Ohr empfindet offenbar nicht unbedingt das einfache Schwingungsverhältnis zweier Grundtöne als konsonant, sondern das gute Übereinstimmen möglichst vieler Teiltöne.  
Ich verwende lieber den Begriff Teiltöne anstatt Obertöne (der Unterschied liegt nur in der Zählweise. Der erste Oberton ist der zweite Teilton, der 5. Oberton ist der 6. Teilton. Das ist viel praktischer).  
Mit der Spreizung wird also zwar der Grundton etwas unrein, aber viele Teiltöne dafür reiner, was offenbar als angenehmer empfunden wird. Am grössten ist die Inharmonizität bei den tiefsten Saiten eines kleinen Klaviers, da die Saiten sehr dick und relativ kurz sind. Da treten Werte um die -40 Cent auf (1 Halbton = 100 Cent). Beim Flügel ist die Inharmonizität kleiner, da die Saiten länger sind.  
Diese Abbildung zeigt wie die Klaviertöne gesenkt oder erhöht werden müssen.

Warum wird das in den alten Stimmungen nicht erwähnt und in den meisten Abhandlungen über Musiktheorie auch nicht? Vielleicht, weil die früheren Instrumente einen kleineren Tonumfang hatten als heute und somit die Inharmonizität vernachlässigbar war. Und überhaupt hatte man ja früher nur nach Gehör gestimmt und gegebenenfalls unbewusst korrigiert. 

Abb. 2

Inharmonizität ist aber nicht der einzige Störenfried. Es lässt sich zeigen, dass der Mensch sehr hohe Töne als zu tief empfindet gegenüber der reinen oder gleichstufigen Stimmung, besonders bei obertonarmen Klängen.  
Höre das folgende Beispiel mit den reinen Tönen A a a' a'' a''' a'''' ! Diese (fast) reinen Sinustöne habe ich mit dem Programm "Audacity" erzeugt: Klangbeispiel

 Die meisten Leute empfinden den letzten Ton als zu tief. Dass führt dazu, dass sehr hohe Oktaven noch mehr gespreizt werden müssten. Inwieweit das berücksichtigt wird beim Klavierstimmen, ist mir nicht bekannt. Man könnte auch von der Inharmonizität des Ohres sprechen, wie das z.Bsp.
Doris Geller tut https://helenbledsoe.com/inharmonicity-of-hearing . Solche Effekte sind schwer zu testen,
da man sich nur auf Aussagen von Versuchspersonen stützen kann. 

Abb. 3

Wie ist es nun bei Gitarrensaiten?  
Wir können die Frequenzen der Teiltöne messen mit einem Programm wie "Overtone Analyzer". Dann sehen wir, dass die Inharmonizität zwar klein ist, aber bei der 3. (nicht umsponnenen) Saite doch ein gewisses Mass erreicht, wie unten an einer Messung gezeigt. Das erstaunt nicht, ist sie doch die dickste und somit steifste Saite, wenn man nur den Kern betrachtet. Die Umwicklungen tragen kaum zur Steifigkeit bei und führen teilweise sogar zu entgegengesetzten Resultaten, also Stauchungen der Teiltonfrequenzen.

Muss das beim Stimmen berücksichtigt werden, und etwa die 3. Saite tiefer gestimmt werden? Das würde wohl nur anderes Ungemach bringen, da z. B. andere Fehler wie Bundunreinheit, schräge Fingerstellung, Saitenunregelmässigkeiten etc. deutlich wichtiger sind. Karl Savoss zählt sogar 14 weitere Faktoren auf, die die Stimmung beeinflussen.  

Wir wissen ja, dass die Gitarre nicht perfekt ist und haben uns daran gewöhnt. Doch ist es gut zu wissen, dass die Inharmonizität ein Grund sein kann für jene unerklärlichen Momente, wo eine Stelle irgendwie unrein klingt, obwohl die Gitarre sonst perfekt gestimmt scheint. Theoretisch könnte man gemäss dieser Studie Saiten fast ohne Inharmonizität herstellen, indem die Saiten-Dichte gegen das Saitenende hin erhöht wird, was aber sehr kompliziert wäre und neue Probleme brächte.  

 Mindestens etwas sollte jetzt klar geworden sein: die Stimmung ist eine hochkomplexe Sache, und wenn man weitere Faktoren wie Kombinationstöne und gänzlich unharmonische Komponenten mit einbezieht, muss man sich eigentlich wundern, dass es überhaupt sowas wie Musik gibt und nicht nur eine riesige Kakophonie. 

Bildquellen:

Abbildung 1: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Railsback2.png
Abbildung 2: Jürg Hochweber
Abbildung 3: Jürg Hochweber







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