Buchbesprechung: Simultanes Lernen von Paul Harris
Von Michael Boner
April 2022
In den letzten Jahren sind einige sehr interessante Bücher zu pädagogischen und didaktischen Themen erschienen. Noch Anfang der 2000er Jahre war «Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht» von Anselm Ernst wohl das bekannteste Buch in diesem Bereich, das zur Zeit meines Studiums viel und heiss diskutiert wurde, und bis heute eine gewisse Präsenz behielt. Dabei gibt es nach meinem Empfinden soviel neue und spannende Literatur zu musikpädagogischen Themen, dass ich es schade finde, dass in der Musikschul-Welt nicht mehr gelesen, besprochen und ausgetauscht wird. Man muss sich natürlich immer vor Augen halten worum es geht: um Bücher, die aus Sicht der Theorie, unsere Praxis reflektieren. Man muss nach meiner Meinung dabei immer Augenmass bewahren. Die Realität ist bekanntlich sehr komplex. Somit muss man sehr genau spüren wo in der Realität die Anregungen aus der Literatur in der Praxis wirklich greifen. Um so mehr möchte ich hier meine eigene Sicht auf diese Bücher beschreiben. Ich möchte die Bücher nicht nur zusammenfassen und kritisieren, sondern auch darlegen wovon ich in meinem Unterrichtsalltag an der Musikschule profitieren kann. Weil was mich inspiriert, könnte auch andere Lehrpersonen interessieren.
Simultanes Lernen von Paul Harris
Das Buch «Simultanes Lernen» von Paul Harris, erschienen 2014 bei Faber Music Ltd, London, beschreibt ein methodisches Vorgehen im Instrumentalunterricht (eben das «simultane» Vorgehen), welches der Autor in der Praxis entwickelt hat, u.a. um eine grössere Motivation und Persistenz bei den Schülern hervorzurufen. Das «simultane» Vorgehen ist dabei simpel: Die Lehrperson überlegt sich beim Einführen eines Stückes welche Kompetenzen verlangt werden. Zum Beispiel ein Stück im 6/8-Takt, in G-Dur und Adagio. Nun wird dem Schüler zu Beginn der Stunde nicht einfach das Stück vorgelegt und erklärt: «schau, wir haben einen 6/8-Takt und ein Kreuz als Vorzeichen. Versuche doch den Anfang mal zu spielen!» Dieses Vorgehen führt fast immer dazu, dass der Schüler versucht, möglichst ohne Fehler durchzukommen, möglichst alles zu erfassen. Wenn er dann etwas vergisst oder die Informationsdichte zu hoch wird, führt das zwangsläufig dazu, dass die Lehrperson ihn auf den Fehler hinweisen muss. Die Lehrperson wird also zwangsläufig zum «Kritiker». Paul Harris’Methode schlägt nun vor, dass man diese einzelnen Elemente der Stücke zuerst erlebbar macht:
Wie fühlt sich ein 6/8-Takte an? Man kann problemlos zuerst ohne Noten den «Groove» eines 6/8-Taktes mit einem Zupfmuster oder einem Akkordschlagmuster erlebbar machen. Danach kann man sich überlegen, wie man denn einen solchen «Groove» aufschreiben würde. Das gleiche macht man dann mit der Tonart etc. Der Schüler versucht vielleicht mit ein paar Tönen über die Akkorde zu improvisieren und merkt dabei, dass es ein Fis braucht, damit es «richtig» klingt. Bei dem ganzen Vorgehen ist wichtig, dass man möglichst nahe am Charakter (hier zum Beispiel Adagio) des letztendlichen Stückes bleibt. Wenn alle Elemente so erlebbar gemacht wurden, erhält der Schüler nun zum Schluss die vollständigen Noten des Stücks. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Schüler nun das Fis beim ab Blatt spielen vergisst, ist deutlich kleiner, weil er davor gerade ein musikalisches Erlebnis damit hatte.
Meine Beschreibung hier ist natürlich sehr zusammengefasst, das Buch geht noch sehr viel mehr in die Tiefe, wie diese Sequenzen aufgebaut werden können, um sie interaktiv zu gestalten. Die Vorteile dieser Methode sind zusammengefasst folgende: Der Teil des Unterrichts, bei dem die Lehrperson dem Schüler sagt, was er alles noch nicht so gut gemacht hat, wird minimiert. Zudem wird viel gezielter an Kompetenzen gearbeitet. Es geht nicht mehr darum, einfach Stück um Stück zu «erledigen», sondern immer ums Musik machen. Im Buch schlägt Paul Harris auch ein Übetagebuch vor, bei dem nicht die Stücke eingetragen werden, sondern Kompetenzen. So soll der Schüler viel klarer merken, wie er immer besser darin wird, Musik zu kreieren. Zudem gibt es so keine guten und schlechten Schüler, denn die Schüler werden ja nicht daran gemessen, ob sie die Stücke, die sie zum Üben auf hatten, nach einer Woche spielen können. Die Methode passt sich automatisch dem Tempo der Lernenden an, so dass mit jedem/jeder relativ automatisch ein Lernerfolg erreicht werden kann.
Die Eckpfeiler der Methoden sind die folgenden vier Prinzipien:
Pro-aktives Unterrichten (nicht reaktives)
Unterrichten mit den Elementen eines Stückes
Es werden verschiedene Lernbereiche verknüpft (Theorie, Gehör, Technik etc.)
Befähigen, nicht kontrollieren und urteilen
Meine Kritik zum Buch
Rein vom Gedanken her spricht mir die simultane Methode sehr aus dem Herzen. Wirklich neu sind die Aspekte der Methode aber nicht (das sagt auch Paul Harris im Buch selbst). Was Paul Harris hier beschreibt ist eher eine sehr konsequente und nach meiner Erfahrung auch effektive Verknüpfung gewisser bekannter methodischer Vorgehenweisen. Ich muss auch sagen, dass man das Buch mit etwas Distanz lesen sollte. Ich finde viele Teile des Buches sehr reisserisch geschrieben. In den Unterrichtsbeispielen die im Buch beschrieben werden, sind LehrerInnen, die auf «herkömmliche» Art unterrichten, oft sehr restriktiv und reaktiv dargestellt, während die simultanen Lektionsbeispiele nur so mit positiven Adjektiven überhäuft geschildert werden. Es scheint so, dass man laut dem Buch nur entweder simultan oder nicht-simultan unterrichtet, dabei gäbe es aus meiner Sicht ganz viele unterschiedliche Dosierungen. Diese schwarz-weiss Darstellung führt bei mir als Leser leider automatisch ein Stück weit zu einer skeptischen Haltung gegenüber dem Buch, was sehr schade ist, da ich es ansonsten inhaltlich sehr lesenswert finde.
Meine Erfahrung in der Praxis
In den letzten Semestern habe ich simultanes Vorgehen mehrfach geplant und durchgeführt. Es war für mich dabei klar, dass ich dieses Verfahren aber nicht für SchülerInnen benutzen möchte, die zu Beginn der Lektion jeweils kaum warten können, mir zu zeigen, wie gut sie ihr geübtes Stück schon beherrschen. Vielmehr wollte ich die Methode ausprobieren bei SchülerInnen, bei denen ich oft zu Beginn der Lektion höre, dass sie leider nicht viel Zeit zum Üben hatten. Zwar gibt es auch andere methodische Vorgehen wie man in solchen Fällen trotzdem eine spannende, abwechslungsreiche Unterrichtsstunde kreieren kann, aber bei der Ankündigung des SuS, er hätte kaum geübt, besteht trotzdem die Gefahr, dass die Lehrperson eine kritische Haltung einnimmt. In den zugespitzten Beispielen, die im Buch vorkommen, lassen die Lehrpersonen dann den Schüler quasi spüren, dass das einfach nicht gut ist. Die simultane Methode möchte den/die SchülerIn hingegen ermutigen und nicht kritisieren.
Im Endeffekt muss ich anhand meiner gemachten Erfahrungen berichten, dass ich von gewissen Ergebnissen wirklich positiv überrascht war. Gewisse SuS konnten nach einer abwechslungsreichen, interaktiven Stunde Stücke ab Blatt relativ fliessend spielen, bei denen wir sonst unter Umständen mehr energievolle Arbeit hätten investieren müssen. Die einzelnen Elemente der Stücke waren so präsent, dass es den Lernenden leichtfiel, alles zusammenzusetzen. Insgesamt habe ich auch den Eindruck, dass Sus, bei denen ich die Methode angewendet habe mehr Motivation entwickelten. Auf der anderen Seite muss ich auch anfügen, dass die Idee vom Aufteilen auf die unterschiedlichen Aspekte der Stücke zu deutlich mehr Vorbereitungsarbeit führte, da dies für ein pro-aktives Unterrichten nötig ist (im Gegensatz zum Reagieren auf was der Schüler bringt). Insofern liesse sich quasi kritisieren, dass nicht ersichtlich ist, woraus nun der wirkliche Gewinn für den Unterricht entstand; aus der detaillierteren Vorbereitung oder aus der simultanen Methode. Ein plötzliches Umstellen mit allen SuS ist angesichts des grösseren Aufwands auch eine Herausforderung. Allerdings ist es wie so oft beim Unterrichten: was man sich einmal ins Unterrichtsrepertoire geschafft hat, braucht immer weniger Vorbereitung. Insofern lohnt es sich damit aus meiner Sicht punktuell zu beginnen und die Menge bei Bedarf zu erhöhen.
Fazit
Wirklich neu sind die Aspekte des «simultanen Lernens» nicht. Jedoch bewirkte das simultane Unterrichten effektiv was es verspricht. Die Methode zwang mich quasi, jede Unterrichtssequenz wirklich gut vorzubereiten. Theoretisch ist das natürlich für jede Lektion wünschenswert, ob es im streng getakteten Alltag in diesem Ausmass immer realistisch ist, sei dahingestellt. Letztlich kann ich festhalten, dass wenn man diese Vorbereitung gemacht hat, die Lektionen wirklich immer sehr Spass machen, motivierend sind und auch die SuS sehr weiterbringen, unabhängig ihrer individuellen Fähigkeiten. Das Buch ist letztlich auch sehr praxisnah und nicht zu theoretisch. Wenn man darüber hinwegschauen kann, dass es die simultane Methode dauernd übermässig bewirbt, kann ich das Buch sehr empfehlen.