Didaktik künstlerischen Musizierens

Komposition 8 - Wassily Kandinsky

von Michael Boner

Kaum jemand würde der Aussage widersprechen, dass ein Instrument zu spielen eine künstlerische Tätigkeit ist. Und doch gibt es auch einen Anteil an dieser Tätigkeit, die man als Handwerk beschreiben könnte. Mit Handwerk meine ich u. a., dass man Noten identifizieren kann, die Tondauer und (im Falle der Gitarre) die Position auf dem Griffbrett kennt und dementsprechend in der Lage ist, eine Abfolge von Tönen korrekt zu reproduzieren. Zum Handwerk gehören insofern auch die Technik, die Haltung etc. die dazu notwendig sind. Nun kann auch ein Notationsprogramm eine Abfolge von Tönen korrekt abspielen. Dass dies in den meisten Fällen nicht sehr inspiriert klingt, ist wohl den meisten klar (auch wenn die Programme diesbezüglich immer besser werden). Was die menschliche Interpretation vom Abspielen durch eine Maschine unterscheidet, ist was über den reinen Notentext und das reine Handwerk hinaus passiert. Nun ist es aber doch so, dass nach meiner Erfahrung das Vermitteln dieses reinen Handwerks in vielen Instrumentallektionen sehr im Vordergrund steht. Es ist vielleicht auch einfacher, sich an diesen Parametern festzuhalten, da sie eher messbar sind.

Vergangenen März habe ich mir einen Input-Vortrag des deutschen Musikpädagogen, Professors und mehrfachen Buchautors Michael Dartsch an der Zürcher Hochschule der Künste angehört. Er hat mit dem Buch «Didaktik künstlerischen Musizierens» ein Werk herausgebracht, das versucht einen Ansatz zu bieten, künstlerisches Tun mit SuS mehr in den Fokus zu rücken. Ich möchte in diesem Artikel einige Aspekte seines Ansatzes zusammenfassen und besprechen, da ich diese als Anregung zum Nachdenken über den eigenen Unterricht sehr spannend finde.

 

Wie wird das Künstlerische definiert?
Zunächst stellt sich die Frage, was ist künstlerisches Musizieren, und kann man auch unkünstlerisch musizieren? Michael Dartsch nennt hier in Anlehnung an Gedanken des amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Deweys drei Aspekte:

Er spricht davon, dass Kunst von alltäglichen Formen ausgeht, sich jedoch von diesen abhebt. Weiter muss ein gewisser Grad an Verfeinerung stattfinden. Also der Wille des Künstlers/der Künstlerin, das Werk nach seiner Vision zu perfektionieren. Und der dritte Aspekt, den er nennt, ist die Verschmelzung. Also dass die Künstlerin/der Künstler quasi sich selbst in das Werk gibt. Es ist hier auch die Rede von Resonanz, ein in den vergangenen Jahren u. a. vom deutschen Soziologen Hartmuth Rosa bekannt gemachter Begriff, der vereinfacht gesagt ein in Beziehung treten mit der Umwelt, aber auch mit der eigenen Psyche beschreibt.

So gesehen kann ein Lied, das eine Mutter mit viel Liebe ihrem kleinen Kind vorsingt als Kunst betrachtet werden, das Abspielen von Noten durch eine Notationssoftware aber nicht.

 

Wie stehen Unterricht und künstlerischer Ausdruck zueinander?

Dass künstlerisches Tun auch nach einer Verfeinerung, einer Perfektionierung des Werkes resp. des musikalischen Ausdrucks strebt, führt natürlich auch dazu, dass künstlerische Professionalität bei einer Lehrperson (also zum Beispiel ein hohes künstlerisches, interpretatorisches Level einer Gitarrenlehrperson) zu einer Steigerung der Unterrichtsqualität führen kann, wenn bei den SuS das Interesse am künstlerischen Aspekt vorhanden ist. Womit die SuS in «Resonanz treten», also einfach gesagt, was sie inspiriert, ist jedoch individuell und bedarf somit auch einer gewissen Schüler*innen-zentrierten Ausrichtung des Unterrichts. 

Letztlich kommt Michael Dartsch zum Schluss, dass der künstlerische Aspekt nicht einfach gelehrt werden kann; es gibt nicht eine bestimmte Art oder Abfolge von Inhalten und Anregungen, welche SuS brauchen, um einen künstlerischen Ausdruck zu entwickeln. Die SuS können diese Ebene nur selbst für sich entdecken. Jedoch gibt es Bedingungen, welche einen solchen Schritt begünstigen.

Im Buch wird hier auch das Umfeld der SuS beleuchtet und welchen Einfluss dieses hat. U. a. wie wichtig die Eltern bei diesem Prozess sind. Ich möchte hier aber direkt weiter zu den didaktischen Gedanken zum Unterricht selbst gehen.

Vier Dimensionen künstlerischen Musizierens im Unterricht

Wie kann nun eine Didaktik aussehen, die Prozesse beleuchtet, welche dieses künstlerische Handeln fördern? Und die dies unabhängig vom Beherrschen des Handwerks macht, also nicht ein hohes handwerkliches Niveau voraussetzt (Dartschs didaktisches Modell soll für IU, aber genauso für EMP* gelten)? Dartsch nennt hier vier Ziele künstlerischen Musizierens: Wahrnehmen, Ausprobieren, Fantasieren, Nachvollziehen. Diese vier Ziele überführt er in vier Dimensionen künstlerischen Musizierens:

·      Die Kontemplative Dimension – beinhaltet das sich Vertiefen in eine Wahrnehmung

·      Explorative Dimension – hier geht es um das Ausprobieren und Entdecken

·      Expressive Dimension – etwas zum Ausdruck bringen, Aspekte wie Interpretation, Improvisation und Komposition gehören hier dazu

·      Approximative Dimension – in diesem Bereich versucht man eine Vorgabe (z. B. einen Notentext) möglichst sinngemäss zu reproduzieren (man nähert sich der Vorgabe an)

Auf den ersten Blick finde ich hier vor allem spannend, dass die expressive Dimension, in welcher wahrscheinlich ein Grossteil des Ausdrucks in einem klassischen Konzert stattfindet, nur in einer von vier Dimensionen vorkommt. Neben der Interpretation gehören auch Improvisation und Komposition zu dieser Dimension.
Die approximative Dimension ist auch relativ selbsterklärend. Hier geht es um das sich annähern (Approximation = Annäherung) an Sachen wie den Notentext. Oder das sich annähern an ein Improvisationskonzept. Mit Annäherung ist gemeint Verständnis dafür aufbauen:

«Das Nachvollziehen sollte in den Formen Rekonstruktion und Integration – also dem Verstehen und Einordnen – sowie in der Reproduktion zum Tragen kommen; […]»

Wenn wir also einen Notentext anhand von dessen Struktur mit SuS behandeln, sei es bzgl. Form, Harmonik, Melodieführung etc., dann bewegen wir uns in dieser Dimension.

Die explorative Dimension beinhaltet das Ausprobieren mit dem musikalischen Material. Dies ist nicht zu verwechseln mit Improvisation (aus dem Experiment wird erst Improvisation durch Festlegung/Reduktion). Ich denke, der Aspekt des Ausprobierens wird oft etwas unterschätzt. SuS reagieren oft mit einer Hemmschwelle, wenn eine Lehrperson sie erst nach Jahren des Unterrichts auffordert, selbst etwas auszuprobieren. Um sich künstlerisch auszudrücken, muss diese Hemmschwelle jedoch unbedingt überschritten werden.

Die vierte Dimension war für mich eigentlich die überraschendste. Die kontemplative Dimension beinhaltet das sich in etwas vertiefen. Dass wir uns in das Hören von Musik vertiefen, in die Stimmung, welche uns vermittelt wird, ist noch relativ klar. Michael Dartsch fasst den Begriff aber nach meinem Verständnis so weit, dass er sagt, Kontemplation/Vertiefung sollte als solche trainiert werden und nicht nur auf der auditiven Schiene. In den Unterrichtsbeispielen im Buch beschreibt er zum Beispiel, wie SuS in einem Gruppenunterricht sich auf die Wahrnehmung konzentrieren, wie es sich anfühlt, einen Gegenstand (zum Beispiel einen Bleistift) mit der Fingerkuppe oder unterhalb der Fingerkuppe zu spüren (dies zielt darauf ab, dass die SuS die Saiten später mit der Fingerkuppe runterdrücken und den Unterschied über den Tastsinn wahrnehmen können). Insofern kann die kontemplative Dimension auch über den taktilen Sinn gehen.

Fazit

Im Endeffekt können didaktische Modelle nie die Praxis neu definieren oder verändern. Jedoch können sie die Praxis, wie wir sie in allen Facetten – zum Teil aber nicht ganz bewusst – wahrnehmen, neu beleuchten. So dass vielleicht auch Aspekte, die wir immer selbstverständlich impliziert haben, zu Tage gefördert werden. Ich glaube das Nachdenken darüber, wie ein künstlerischer Ausdruck didaktisch begünstigt werden kann, ist für unseren Unterricht eigentlich von grosser Wichtigkeit! Dies habe ich in dieser Konsequenz bisher aber nie in didaktischen Schriften vorgefunden. Insofern finde ich es nur schon spannend, sich mit diesem didaktischen Modell zu befassen, um konkreter ins Nachdenken über diese Thematik zu kommen.

Die vier Dimensionen im Modell von Michael Dartsch machen für mich auch sehr viel Sinn. Letztlich muss man das Wahrnehmen lernen (Kontemplation) um selber sich künstlerisch ausdrücken zu können. Man braucht das Verständnis für den musikalischen Inhalt (Approximation). Zudem braucht es eine Agilität (gefördert durch Exploration) und nicht zuletzt braucht es auch ein Ausdrucksrepertoire (Expression). Alle diese Aspekte sind einzeln genommen nicht neu, aber in dieser Aufteilung und zu diesem Zweck empfinde ich sie als Anregung um den Unterricht anders zu betrachten und vielleicht in Teilen neu zu denken.


Ich möchte hier anfügen, dass das Buch «Didaktik künstlerischen Musizierens» alle möglichen Aspekte unglaublich akribisch beleuchtet und viele bestehende Schriften zu Teilaspekten des Themas nennt, zitiert, verknüpft und interpretiert. So gesehen ist mein Artikel, in dem ich bis aufs Äusserste zusammenfasse, über Fokuspunkte im Buch entscheide und auch eigene Gedanken einfliessen lasse, stark durch meine eigene Wahrnehmung des Themas und mein eigenes Verständnis des Buches gefärbt.

“Didaktik künstlerischen Musizierens” von Michael Dartsch ist 2019 bei Breitkopf & Härtel, Wiesbaden erschienen.

*IU = Instrumentalunterricht, EMP= Elementare Musikpädagogik

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