“Musik ist meine Sprache” - Maria Linnemann im Interview
März 2022, das Interview führte Claudia Straube
Viele Ihrer Gitarrenstücke begleiten mich seit Jahrzehnten im Unterricht, Gitarrentrio oder solistisch. Die Musik von Maria Linnemann hat bis heute nichts an ihrer Energie und Farbigkeit verloren und weckt in mir immer wieder Neugier und Reiselust auf fremde Länder. Viele Kolleginnen und Kollegen kennen ihren grossen Schatz an Gitarrenliteratur ebenso.
Es war mir seit Jahren ein Bedürfnis, die Komponistin hinter den beliebten Stücken kennenzulernen. Was für eine Freude und Ehre, diese grossartige Musikerin und Persönlichkeit via Zoom zu treffen und hier vorstellen zu dürfen.
EGTA: Liebe Maria Linnemann, Sie haben ursprünglich Klavier und Dirigieren studiert. Was hat Sie zur Gitarre geführt – und nicht mehr losgelassen?
Maria Linnemann: Ich habe in London an der Royal Academy of Music Orchesterdirigieren studiert und das Klavierdiplom gemacht. In meiner Jugend habe ich Geige gespielt. Ich war sehr erfolgreich und wollte eigentlich weiter in meiner Heimat England bleiben, ging dann jedoch der Liebe wegen nach Deutschland. Da ich auch einen pädagogischen Abschluss hatte, fand ich eine Stelle in einer Mädchenschule. Dort kam ich eher zufällig zur Gitarre, ich erhielt den Auftrag Gitarre zu unterrichten. So ging ich zu Martin Nicolai, einem hervorragenden Gitarristen, Bratschisten und Maler. Von ihm hörte ich zum ersten Mal bewusst ein Gitarrenstück, und zwar eins von Napoleon Coste – ich war sofort in die Gitarre verliebt. Martin Nicolai gab mir eine Meister-Gitarre und ich habe von diesem Tag an täglich sieben Stunden geübt.
EGTA: Er war Ihnen ein wichtiger Wegbegleiter?
ML: Ja, auf jeden Fall! Martin Nicolai war der große Mensch meines Musiklebens. Er war mein Mentor, Wegbereiter und Wegbegleiter, ihm verdanke ich das Spielen und vieles mehr... Über ihn wurde ich bekannt mit Professor Heinz Teuchert, einem Jugendfreund von Martin. Mit ihm verband mich eine jahrelange Zusammenarbeit als Gitarristin und Komponistin. Und meine Vorbilder: Andrés Segovia und das einmalige Presti/Lagoya Duo. Das sind meine grossen Ikonen - wegen ihrer wunderbaren Sprache auf der Gitarre.
EGTA: Sie komponieren seit Jahrzehnten Werke für Gitarre. Ihre Musik scheint aus einer unerschöpflichen Quelle von Ideen in verschiedensten Stilen zu entstehen. Wie würden Sie ihre Quelle beschreiben?
ML: Also ich kann nicht auf Aufforderung schreiben – das kann ich gar nicht haben – ich kann es nicht. Die Inspiration kommt oder sie kommt nicht. Das ist bis heute so. Ich bin sehr glücklich, dass während meines bewegten und nicht selten abenteuerlichen Lebens die Inspiration sehr oft kam – und oft so schnell, dass ich kaum mit dem Bleistift hinterherkam! Die Menschen, die Ereignisse, die Länder – alles brachte Musik hervor. Meine Musik ist, wenn man so will, sehr autobiographisch. Ich finde es auch wunderbar, wenn jemand ein Echo in seiner Seele findet zu dem was vorher meine Inspiration war und in Musik ausgedrückt wurde. Ich muss sagen, für mich ist die Musik meine erste und wichtigste Sprache - schon immer gewesen. Wie für alle Instrumentalisten, die Musik drückt mehr aus, als ich in Worten sagen kann.
EGTA: Gab es einen besonderen Anlass mit dem Komponieren zu beginnen?
ML: Also, mein erstes Stück kam mir sehr überraschend, mitten im Spielen einer Sarabande und Double von Bach in den Sinn. Dabei habe ich plötzlich eine Melodie gehört, die ich nicht spielte. Ich hörte auf zu spielen, um diese aufzuschreiben. Ich singe gern, habe lange Geige gespielt, und ich denke, dies hat ‘meine Sprache’ auf der Gitarre stark beeinflusst. Die Gitarre war für mich schon immer etwas wie meine eigene Stimme, vor allem sollte das Instrument ,singen’. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, Musik für die Gitarre zu schreiben. Aber als dieses Stück kam, habe ich mich drei Wochen lang eingeschlossen und nur geschrieben. Die Musik floss heraus, als hätte sie zu lange warten müssen! Mein erstes Stück habe ich meiner Nichte Lisa gewidmet, und seitdem sind viele meiner Stücke jemandem aus meiner riesigen Familie gewidmet. Zwanzig Jahre lang ist die Musik einfach so geflossen. Es war manchmal schwierig zu unterrichten, wenn dort die Musik aus mir herauswollte, aufgeschrieben werden wollte. Ich habe dann schnell etwas nebenbei skizziert und dann weiter unterrichtet. Ich muss sagen, ich habe wahnsinnig gern unterrichtet, egal ob die Schüler sieben Jahre alt waren oder siebenundsiebzig. Unterrichten und Musik schreiben – das war und ist mein Himmel auf Erden.
EGTA: Wie erlebten Sie Ihr Schaffen als Musikerin und Komponistin in der Zeit der 1970-80er Jahre in einer bis heute männlich geprägten Musikwelt?
ML: In einem Londoner Workshop mit Heinz Teuchert durfte ich meine erste Publikation «Guitar Solos» vorstellen und fand damit grossen Anklang. Aber gleich hinterher kam ein junger Mann auf mich zu, klopfte mir auf den Kopf und sagte: «Nicht schlecht, die Kleine!» Das sagt vielleicht viel aus, wie ich mich 20 Jahre lang öfter durchkämpfen musste. Mehr als einmal musste ich zum Beispiel auch hören: «Sie sollen doch froh sein, dass wir ihre Musik spielen!“ Worauf ich gerne antwortete: »Aber Sie müssen meine Musik doch nicht spielen!“ Es hat sich zwar inzwischen viel geändert, aber es gibt bis heute Menschen, die so auf mich zukommen. Inzwischen finde ich die richtigen ruhigen Worte und weiss: Das ist ihr Problem – nicht meins. Als man mir vor Jahren vorschlug, in einen Frauenverlag zu wechseln, sagte ich: «Nein – das wäre für mich irgendwie ein Versagen, da ich die Möglichkeit und das Glück doch habe, mich unter den Männern zu behaupten!» Ich hatte meinen Weg gefunden und habe mich nicht beirren lassen. Ich bin meinen Verlegern und dem hervorragenden Lektor Michael Koch sehr dankbar, habe mit Hilfe ihrer Veröffentlichungen meiner Musik auf aller Welt eine grosse Resonanz gefunden und erhalte viele positive Rückmeldungen von wunderbaren GitarristInnen.
EGTA: In meinem Notenschrank, ich habe nachgezählt, finden sich 12 Hefte für Gitarre, vom Kinderliederbüchlein bis zur Sololiteratur. Ihre kunterbunten Kindersuiten sprechen die Sprache der Kinder noch genauso wie vor 30 Jahren. Mein Favorit: Piratensuite! Was heisst für Sie gute Schülerliteratur?
ML: Ach – Ich muss sagen, dieser Ausdruck gefällt mir nicht sehr. Warum? Vielleicht weil der nicht nach ‘Musik’ klingt. Für mich heisst es: vom ersten Ton, den du spielst, bist du ein Musiker. Und du spielst Musik und nicht ,Schülerliteratur’. Dieser Ausdruck kann, finde ich, etwas abwertend klingen. Ein anderer Ausdruck, den ich überhaupt nicht mag ist: «Werdende Musiker». Was ist das für ein Quatsch?! Das scheint mir wie eine Beleidigung! Ich habe es jeden Tag meinen Schülern bewusst gemacht, dass sie vom Beginn an als musikmachende Menschen, als Musiker bei mir waren, nicht als etwas «werdendes». Sie spielten auch das Einfachste mit dem ganzen Herzen, ja mit der ganzen Seele. Nicht selten half ihnen die Musik, die sie machten, auf wichtiger Weise durch ein nicht ganz einfaches Leben. Ich denke, das macht einen Musiker aus.
EGTA: Sie arbeiten aktuell an einer Reihe neuer Kompositionen. Erzählen Sie uns etwas darüber?
ML: Als dieser schreckliche Krieg in der Ukraine anfing, habe ich einfach gebetet. Am Abend kam dann das Stück: «A Prayer for Peace» - eine Botschaft, die aus mir herauswollte. Auf youtube gab es schnell viele Kommentare und das Stück wird bereits in vielen Ländern gespielt. Einige Tage später entstand ein weiteres Stück: «A Bedtime Story» als ich an all die Kinder und Mütter in den Kellern und U-Bahn-Stationen dachte. Man hört in dem Stück, wie eine Mutter ihr Kind mit einer kleinen Geschichte beruhigen möchte und versucht es zum Schlafen zu bringen.
Leider kann ich heute wegen Problemen der rechten Hand nicht mehr so gut Gitarre spielen wie früher. Ich übe trotzdem viel und spiele auch oft Klavier, momentan entstehen auch ein paar Kompositionen für das Instrument. «A Prayer for Peace» und die Umsetzung auf youtube haben mich wieder zu meiner geliebten Dieter Hense Gitarre gebracht.
EGTA: Kurz gefragt: Notenpapier oder Notenprogramm?
ML. Notenpapier und Bleistift, immer! Erfreulicherweise sagt man mir, ich habe eine schöne, gut leserliche Handschrift. Ich habe übrigens auch meine persönliche Kurzschrift entwickelt, damit ich mir rasch Notizen machen kann, wenn unterwegs eine Idee in mir auftaucht. Ich habe einmal auf einem langen Kassenzettel direkt in dem Supermarkt eine Komposition vollständig geschrieben. (lacht)
EGTA: Grosse Frage: Was sind Ihre Ideale, was möchten sie uns mitgeben?
ML: Ich bin jetzt im 75ten Jahr und darf sagen, ich war sehr privilegiert. Ich konnte immer das machen, was meine Passion war: Musik – Musik schreiben und unterrichten. Das macht mich sehr zufrieden. Dass jeder Mensch das findet, was ihn erfüllt und glücklich macht. Das war auch mein Wunsch als Lehrerin. Ich sagte meinen Schülern oft: «Suche deine Passion im Leben – Finde das, was dir deine Einmaligkeit bewusst macht. » Vielleicht ist das das Geheimnis eines langen, zufriedenen Lebens! Was ich immer weitergeben wollte war, dass jeder Spieler ihre/seine eigene ,Stimme’ auf dem Instrument entdecke. Vorbilder haben ist fein, aber man sollte nicht einfach ein ,Abklatsch’ von irgendeinem ,Gitarrenhelden’ werden wollen. Jeder Mensch hat etwas Einmaliges zu sagen. Authentisch sein ist wichtig. Schauen was für einen möglich ist und seine eigene Art finden zu musizieren, zu kommunizieren.
Ein kurzes Nachwort
Maria Linnemann und ich trafen uns online für dieses Interview. Diese kurze Begegnung war von Beginn an überraschend direkt und sehr persönlich und wird mir unvergesslich bleiben. Unser Gespräch hat bei mir etwas ins Klingen gebracht. Gleich mit der ersten Frage nach ihrem aktuellen Schaffensprozess sprach Maria sehr emotional und mit grosser Betroffenheit über den Krieg und das Leid in der Ukraine. Ihre offene Art, sehr persönliche Themen mit mir zu teilen, haben mich tief berührt. Und noch jetzt beim Niederschreiben klingen ihre Botschaften ganz intensiv in mir nach: Kinder sind bereits kleine Musiker!
Sei du selbst, bleib immer authentisch in dem, was du tust!
Weitere Infos über Maria Linnemann: www.maria-linnemann.de