Noten im E-Gitarrenunterricht - wichtig oder nichtig?

Gedanken von Livio Reutlinger

Ich habe mich mit verschiedenen Gitarrenlehrer*innen über die Frage ausgetauscht, ob auch E-Gitarrist*innen lernen sollten Noten zu lesen und möchte in diesem Artikel einen möglichen Umgang mit diesem Thema aufzeigen. 

Unterschiedliche Voraussetzungen und Anforderungen 

Im Bereich der klassischen Gitarre wird überwiegend nach Noten gespielt, während viele E-Gitarrist*innen Tabs den Noten vorziehen oder Noten gar nicht lesen können. Doch weshalb ist das so? 

 Zum einen liegt das sicherlich daran, dass klassische Gitarren- und Unterrichtsliteratur zum grossen Teil nur in Noten erhältlich ist, während in Lehrmitteln und Songbüchern für E-Gitarre fast immer auch Tabs zu finden sind. Für die meisten E-Gitarrist*innen ist es somit nicht zwingend notwendig, Noten lesen zu lernen. Um Zugang zur klassischen Gitarrenliteratur zu erhalten, ist diese Fähigkeit hingegen eine Grundvoraussetzung. 

Zum anderen ist das aber wohl auch damit zu begründen, dass die Anforderungen an klassische Gitarrist*innen und an E-Gitarrist*innen sehr unterschiedlich sind. So lässt sich Mehrstimmigkeit, wie sie in der klassischen Gitarrenmusik vorkommt, mit Noten besser darstellen als mit Tabs. Zudem sind Noten wohl „musikalischer“ als Tabs, weil in Noten beispielsweise Melodieverläufe klar zu erkennen sind. Auch das ist insbesondere im Bereich der klassischen Musik von Vorteil, da die erste Annäherung an ein Stück oft über die Noten erfolgt und diese als Grundlage für das Erarbeiten einer Interpretation dienen. Für E-Gitarrist*innen sind Solieren und Improvisieren wichtige Themen und für das Erlernen von Licks und Skalen sind Tabs und Griffbilder wahrscheinlich besser geeignet als Noten. Ausserdem lassen sich spezifische E-Gitarren-Techniken wie Bendings mit Tabs besser darstellen als mit Noten. 

Ist das Lernen von Noten vonnöten? 

Im Austausch mit meinen Kolleg*innen habe ich festgestellt, dass grundsätzlich Konsens darüber besteht, dass die Fähigkeit Noten zu lesen auch für E-Gitarrist*innen nützlich sein kann oder in gewissen Bereichen sogar nötig ist. Dennoch gibt es unterschiedliche Meinungen dazu, wie mit dem Thema Notenlesen im E-Gitarrenunterricht umgegangen werden sollte. Ein Teil meiner Kolleg*innen ist der Ansicht, dass das Erlernen der Notenschrift zu einer musikalischen Ausbildung schlichtweg dazugehört und deshalb auch im E-Gitarrenunterricht Platz finden sollte. Der andere Teil ist der Meinung, dass das Notenlesen für die meisten E-Gitarrist*innen keine Relevanz hat und deshalb vernachlässigbar ist. 

 Dass es zu diesem Thema unterschiedliche Meinungen gibt, zeigt sich auch im Umstand, dass das Notenlesen beim „mCheck“ im Kanton Aargau auch für E-Gitarrist*innen Pflicht ist, während dies beim „Stufentest“ in Zürich nicht der Fall ist. Auch die Absolvent*innen des „Stufentests“ müssen ab einer gewissen Stufe ein Stück ab Blatt spielen. Sie haben aber jeweils die Wahl zwischen zwei Stücken, von denen eines in Noten und eines in Tabs notiert ist. Und wenn ich mich richtig erinnere, hat sich noch kein*e E-Gitarrist*in für die Noten entschieden. 

Die verzwickte Lage mit den Lagen 

Während auf der E-Gitarre schon ganz einfache Riffs und Songs wie zum Beispiel „Smoke on the Water“ in verschiedenen Lagen gespielt werden, können sich Anfänger*innen auf der klassischen Gitarre in der Regel auf das Spielen in der I. Lage beschränken. Die klassische Gitarre wird oft als Soloinstrument eingesetzt und insbesondere für zwei- oder mehrstimmiges Spiel eignet sich die I. Lage sehr gut. Weil das Spielen in verschiedenen Lagen aber sozusagen „in der Natur“ der E-Gitarre liegt, ist es meiner Meinung nach schwierig, auf der Basis von Noten einen praxisorientierten Unterricht aufzubauen. 

Andreas Scheinhütte versucht das mit seinem Lehrmittel Schule der Rockgitarre. Wie ich finde, gelingt ihm das aber nur bedingt. Aus meiner Erfahrung funktioniert dieses Lehrmittel nur mit ergänzendem Unterrichtsmaterial und zwar genau deshalb, weil schon nach kurzer Zeit in verschiedenen Lagen gespielt werden soll. 

Wenn im E-Gitarrenunterricht also ausschliesslich mit Noten gearbeitet wird, ist es zumindest zu Beginn nicht möglich, in verschiedenen Lagen zu spielen. Das schränkt die Auswahl an Riffs und Songs aus dem Pop- und Rockbereich stark ein. Und wenn parallel mit Noten und Tabs gearbeitet wird, muss das Notenlesen als separates Thema behandelt werden, welches für manche Schüler*innen möglicherweise keinen erkennbaren Nutzen hat und im schlechtesten Fall als „Bremse“ empfunden wird. 

Mögliche Ansätze 

Ich würde den Entscheid, mit oder ohne Noten zu arbeiten, von den Vorlieben und Zielen der Schüler*innen und von gewissen äusseren Faktoren abhängig machen. Ein äusserer Faktor ist beispielsweise der Umstand, dass Schüler*innen zum Absolvieren des „mCheck“ Notenkenntnisse benötigen. Besonders am Anfang würde ich grundsätzlich nur dann mit Noten arbeiten, wenn diese den Schüler*innen dabei helfen ihre Ziele zu erreichen oder auf diesem Weg zumindest keine „Bremse“ sind. Jemandem der Jazz mag, würde ich raten, Noten lesen zu lernen. Jemand der Rock spielen möchte, kommt mit Tabs aber wahrscheinlich schneller zum Ziel. 

 Einige meiner Kolleg*innen (und auch ich) haben die Erfahrung gemacht, dass das Arbeiten mit Noten mit jungen Schüler*innen (ca. 1. – 3. Klasse) in der Regel besser funktioniert als beispielsweise mit Teenagern. Ein Grund dafür kann sein, dass Teenager bereits mit Tabs in Kontakt gekommen sind und keine Notwendigkeit darin sehen, Noten lesen zu lernen. Ich glaube jedoch, das liegt in erster Linie daran, dass viele Teenager Pop- oder Rocksongs spielen möchten, welche wie bereits beschrieben mit Noten schwierig darzustellen sind. Einfache Melodien, wie sie in Kinderliedern vorkommen, lassen sich hingegen anhand von Noten sehr gut vermitteln. In diesem Zusammenhang möchte ich das Lehrmittel Rockodil von Robert Morandell und Christoph Gruber empfehlen, unter anderem auch deshalb, weil darin auch Themen wie Improvisation behandelt werden. 

Fortgeschrittenen Schüler*innen biete ich jeweils an, parallel mit Tabs und Noten zu arbeiten. Für sie werden Notenkenntnisse wichtig, wenn sie zum Beispiel ein Musikstudium absolvieren oder selber Musik komponieren oder arrangieren möchten. Eventuell ist es von Vorteil, wenn fortgeschrittene E-Gitarrist*innen in der V. Lage Noten lesen lernen, weil das Griffbrett von der V. Lage aus besser abgedeckt werden kann als von der I. Lage aus. 

Weitere Überlegungen 

Weil die E-Gitarre in erster Linie ein Bandinstrument ist, spielen meine Schüler*innen zuhause und auch im Unterricht oft mit Begleitmusik. So kann die rhythmische Sicherheit und das Zusammenspiel „trainiert“ werden. Das Spielen mit Musik, insbesondere mit Originalsongs, kann aber auch dazu führen, dass die Schüler*innen überwiegend nach Gehör spielen und so nicht zwangsläufig Rhythmusnoten lesen lernen. Die Fähigkeit Rhythmusnoten zu lesen und zu schreiben, ist meiner Meinung nach aber auch für E-Gitarrist*innen unverzichtbar und sollte deshalb im Unterricht gezielt gefördert werden. Sie ermöglicht es beispielsweise, eigene Songideen zu notieren. 

 Um die Grundtöne von Powerchords, Barréakkorden oder Skalen finden und benennen zu können, ist es nötig, zumindest die Töne auf der tiefen E- und der A-Saite zu kennen. Dies kann unter anderem auch für die Kommunikation mit Bandkolleg*innen hilfreich sein. Anhand von Riffs oder Songs, bei denen die Powerchords nicht mit Tabs, sondern mit Akkordsymbolen notiert sind, kann dies gut vermittelt werden. 

 Fazit 

Ich denke, man sollte im E-Gitarrenunterricht immer abwägen, wie gross der Nutzen von Notenkenntnissen für die jeweilige Schülerin oder den jeweiligen Schüler ist. Ich halte es für legitim, auf das Arbeiten mit Noten zu verzichten, wenn man mit Tabs beispielsweise schneller vorwärtskommt. Zudem glaube ich, dass Schüler*innen sich das Notenlesen auch dann noch problemlos aneignen können, wenn dies für sie relevant wird. Auch ich habe erst Noten lesen gelernt, als ich wusste, dass ich Musik zu meinem Beruf machen möchte und unter E-Gitarrist*innen bin ich damit kein Exot. 

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