Von der Fertigkeit zur Kompetenz, der Weg zur Selbständigkeit?

von Michael Boner

In den vergangenen Wochen habe ich mehrere Male bei einem Kollegen an der Hochschule im Fachdidaktik-Unterricht hospitiert (Christian Berger, der vor einem Jahr auch eine EGTA-Weiterbildung geleitet hat). Dabei kam die Frage auf wie, sich eine Fertigkeit von einer Kompetenz unterscheidet. 

Auch wenn der Begriff «Kompetenz» in didaktischer Literatur oft schon fast inflationär verwendet wird, hat mich das repetieren der Definition, was eine Kompetenz eigentlich ist, und wo sie sich von den Fertigkeiten abgrenzt, vor allem im Kontext des Unterrichtens von musikalischem Ausdruck doch nochmals etwas zum Nachdenken gebracht.
Per Definition sind Fertigkeiten erworbenes Können (im Gegensatz zu Fähigkeiten, die nicht erworben sind). Die Fertigkeiten werden dann zur Kompetenz, wenn sie selbständig übertragen und in anderem Kontext eingesetzt werden können. Im künstlerisch musikalischen Bereich heisst das also, wenn eine Schülerin/ein Schüler mit mir im Unterricht zu einer musikalischen Interpretation eines Werkes gelangt (mit Dynamik, Agogik etc.), und sie/er diese Interpretation auch umsetzen kann, dann hat sie die Fertigkeit, dieses Stück zu interpretieren. Solange sie/er jedoch auf mich als Lehrperson angewiesen ist, um mit mir zusammen zu einer Interpretation zu kommen, kann man noch nicht von einer interpretatorischen Kompetenz sprechen. Selbst dann, wenn wir die Interpretation in einem Unterricht erarbeitet haben, bei dem die SuS viel Platz haben, um sich selbst einzubringen und mitzubestimmen. Von interpretatorischer Kompetenz kann man also eigentlich erst dann sprechen, wenn die SuS mit einer eigenen Interpretation im Unterricht erscheinen (oder ungefragt im Unterricht anfangen zu interpretieren), und diese aus ihrer eigenen Inspiration entstammt (und nicht, weil sie den Auftrag erhalten haben). Die Definition von Kompetenz beinhaltet also den Aspekt der Selbständigkeit, resp. der Loslösung der SuS von der Lehrperson.

Ich glaube, dass neben einem gewissen Grad an Mitbestimmung der SuS im Unterricht, und einer didaktischen Förderung der Selbständigkeit noch zwei ganz wichtige Parameter fast schon Voraussetzung sein müssen, damit dieser Schritt in die Selbständigkeit gelingt;

  1. Zum einen ist es fast unabdingbar, dass die Schüler*innen ein recht hohes Mass an Hörerfahrung mit dem Musikstil resp. der Epoche aufbauen, aus welcher das zu interpretierende Stück stammt. Wie zum Beispiel Agogik und Dynamik anders dosiert werden bei einem klassischen Stück von Giuliani als bei einem Satz aus einer Cello-Suite von Bach kann nur mit Hör-Kenntnis dieser Epochen verstanden werden. Bei SuS, bei denen ich beobachten konnte, wie sie von selbst solche Unterschiede anfingen zu machen, gab es fast immer ein familiäres Umfeld welches kultur- und musikinteressiert war, oder sie besuchten ein künstlerisches Gymnasium oder verbrachten aus Eigenmotivation auch in ihrer Freizeit Zeit damit, sich verschiedene Musik anzuhören. Insofern frage ich mich manchmal wie viel es bringt, den SuS möglichst früh Dynamik beizubringen, wenn die SuS noch nicht aus dem inneren heraus fühlen, welchen Ausdruck sie (damit) transportieren möchten. Es fehlt ihnen quasi das Verständnis für den Sinn der Gestaltung. Das lauter und leiser spielen wird dann quasi zu einer technischen Übung. Ich möchte hier aber auch kein bestimmtes Vorgehen kritisieren. Ich stelle zu einem gewissen Grad einfach in Frage, wie effektiv das Spielen mit Gestaltungsmitteln ist, wenn die Hörerfahrung der SuS noch nicht genügend vorhanden ist.

  2. Die andere Voraussetzung, welche ich für eminent wichtig auf dem Weg zur gestalterischen Kompetenz halte, ist die Resonanz. Resonanz, ein in den vergangenen Jahren u. a. vom deutschen Soziologen Hartmuth Rosa bekannt gemachter Begriff, der vereinfacht gesagt ein in Beziehung treten mit der Umwelt, aber auch mit der eigenen Psyche beschreibt (hier zitiere ich einen Satz aus meinem Artikel von vor einem Jahr). Resonanz ist in meinem Verständnis dem Zustand der Inspiration recht nahe. Doch wie erzeugen wir Resonanz bei den SuS? Eigentlich ist dies aus meiner Sicht die falsche Frage. Ich glaube, dass praktisch jeder Mensch von Anfang an mit Musik resoniert. Sei es, dass ein Kind ein Lied einer Kinder-CD rauf und runter hören will oder dass ein Teenager sehr angetan ist von einem HipHop-Künstler. Ich denke das Herausfinden, womit ein*e Schüler*in resoniert, ohne Vorbehalte gegenüber Musikstilen etc., ist ein wichtiger Prozess, um dann die Resonanz quasi zu nutzen, sie mit dem Instrument erlebbar zu machen, zu «kultivieren» und allenfalls mit der Zeit durch Erweiterungen des musikalischen Horizonts auf neue Musikstile übertragen zu können. Zusammengefasst glaube ich, dass nur dann eine interpretatorische Kompetenz entstehen kann, wenn die SuS erleben können, wie der musikalische Ausdruck mit ihrem inneren Empfinden für die Musik zusammenhängt. 

Ich nehme an, dass fast alle Lehrpersonen zustimmen würden, dass sie die SuS zu kompetenten Musikerinnen ausbilden möchten. Ich merke jedoch auch bei mir selber, dass ein regelmässiger analytischer Blick auf meinen Unterricht mit Fokus auf beschriebene Aspekte auch immer wieder lohnenswert sein kann. Allzuschnell geht es einem bei der Unterrichtsvorbereitung darum, wie man eine Schülerin/einen Schüler nun beim nächsten gitarristischen Schritt unterstützen kann und das Begleiten in die musikalische Selbständigkeit ist (phasenweise) dann eher im Hintergrund.

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