Das älteste Manuskript der Quatre Pièces Brèves und wie es zu dessen Erstveröffentlichung kam - Ein Interview mit Han Jonkers 

Zum 50. Todestag von Frank Martin  

Von Michael Boner

Die Quatre Pièces Brèves des Schweizer Komponisten Frank Martin zählen zu den bedeutendsten Werken für Gitarre aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist eines der frühesten Werke, in denen Frank Martin mit Elementen der Zwölftonmusik arbeitete. Er verband diese Technik mit funktionaler Harmonik, zudem orientierte er sich an barocken Satzformen. 1933 in der Schweiz für Andrés Segovia komponiert, haben die Quatre Pièces Brèves1 wohl auch wegen ihrer etwas verworrenen Geschichte noch grössere Bekanntheit erlangt: Unter anderem ist das Manuskript, welches Martin an Segovia schickte, bis heute verschollen. Bei den verschiedenen Manuskripten, die später entstanden, gibt es einige kompositorische Unterschiede, bei denen (nach meiner Erfahrung) viel diskutiert wird, welche Kürzungen Martin wohl wegen der Verunsicherung durch Segovia vorgenommen hatte und welche Version seiner kompositorischen Vision entsprach und folglich gespielt werden sollte. 

 

Han Jonkers, der ehemalige Präsident der EGTA-Schweiz, kennt sich mit der Geschichte der Komposition sehr gut aus. Er sorgte dafür, dass das älteste Manuskript, welches wie die Segovia-Fassung im Jahr 1933 entstand, Ende der 1990er Jahre zum ersten Mal im Gitarrenmagazin Gitarre und Laute öffentlich zugänglich gemacht wurde. Den Artikel von damals findet man aktuell auf Han Jonkers’ Website zum Nachlesen (siehe Quellenangaben weiter unten).  

Das veröffentlichte Manuskript von Han Jonkers ist allgemein weniger bekannt als die anderen Versionen. Anhand seiner zeitlichen Nähe zum Segovia-Manuskript, müsste dieser Fassung mehr Beachtung zukommen. Aus diesem Grund habe ich Han Jonkers zum Interview getroffen. Ich spreche mit ihm über die spannende Geschichte, was es mit diesem Manuskript auf sich hat und wie es zu der Veröffentlichung kam. 

 

Michael Boner: Lieber Han, vielen Dank, dass du dir Zeit nimmst für unser Interview. Wie ist deine persönliche Geschichte mit den QPB? Wie bist du mit dem Stück zum ersten Mal in Kontakt gekommen? 

 Han Jonkers: Das war durch die Aufnahme von Julian Bream, die, wie ich finde, bis heute eine der wichtigsten Schallplatten im Gitarrenbereich ist. Nur schon wegen der Stückauswahl (Kompositionen von Benjamin Britten, Hans Werner Henze, Frank Martin, Reginald Smith-Brindle und Heitor Villa-Lobos) und natürlich auch, wie Bream diese Stücke spielt. Es ist unglaublich zu realisieren, dass diese Schallplatte 1967 ein Bestseller war. 

 

MB: Welche Bedeutung haben für dich die QPB generell im 20. Jahrhundert für die Gitarre? 

 HJ: Ich denke, dass diese Zwischenkriegsperiode abseits des von Segovia beeinflusste spanischen und lateinamerikanischen Kompositionsstils bis heute recht wenig Beachtung findet. Aus dieser Zeit gibt es viele spannende Werke für und mit Gitarre. So zum Beispiel von Willy Burkhard (Serenade Op. 71 Nr.3 für Flöte & Gitarre, 1935), vom mexikanischen Komponisten Carlos Chavez (Three Pieces,1921), von Alfonso Broqua (»Evocaciones Criollas» 1922) von, Alfred Uhl (diverse Kammermusik), Paul Hindemith (Rondo für 3 Gitarren, 1925), Elliot Carter (ein Lied mit Gitarrenbegleitung, 1938 und spätere Werke für Sologitarre), Anton Webern (3 Lieder Op. 18, 1925), Arnold Schönberg (Serenade Op.24, 1923), Ottorino Respighi (Variazioni, 1909?) oder Ferdinand Rebay, um nur einige Beispiele zu nennen. In dieser Periode erfuhr die Gitarre viel Beachtung von Komponisten, die nicht von Segovia beeinflusst waren. Und die QPB sind vielleicht das bekannteste Werk. 

 

Eckdaten der verschiedenen Fassungen

Um die Geschichte der Komposition in den Grundzügen zu verstehen, möchte ich hier vorweg einige Eckdaten zusammenfassen. Da die ganze Geschichte der Manuskripte jedoch schon mehrfach im Detail aufgerollt wurde (u.a im Artikel von Han, siehe Quellenverzeichnis), werde ich mich nur auf die wichtigsten Eckdaten konzentrieren. Die Quatre Pièces Brèves komponierte Martin 1933. Mehrere Manuskripte von Martin gingen verloren (u.a. das besagte Segovia-Manuskript). Bis heute erhalten sind drei handschriftlich angefertigte Fassungen von Martin:

  1. eine Version von 1933 (erstmals von Jan de Kloe erwähnt und über Han Jonkers 1998 im Magazin Gitarre und Laute publiziert)
  2. eine zweite Version, die 1938 der Zürcher Gitarrist Herrmann Leeb von Martin erhielt, in der Folge oft als Leeb-Manuskript betitelt
  3. ein Manuskript von 1955, in der Folge als Scheit-Version bezeichnet, auf welchem dann die erste öffentlich publizierte Version von Karl Scheit/Universal Edition (UE) beruhte.

Wenn man die bestehenden Versionen vergleicht, dann erkennt man, dass Martin bereits von der Fassung von 1933 zur Fassung von 1938 Vereinfachungen vorgenommen hat, da er wohl glaubte, dass es so nicht spielbar sei. In der Scheidt-Version gibt es dann viele weitere Anpassungen, die das Stück besser spielbar machen. Es wird vermutet, dass Martin hier auch von Veränderungen des Gitarristen José de Azpiazu beeinflusst war, welcher das Stück für sich anpasste.

MB: Kommen wir nun doch direkt zu den verschiedenen Manuskripten, welche es von den QPB gibt: Als ich angefangen habe, mich im Studium mit den QPB auseinanderzusetzen, war in meinem Umfeld das Leeb-Manuskript von 1938 und die Version welche von Karl Scheit/Universal Edition herausgegeben wurde, bekannt. Viele Leute hatten das Gefühl, Scheit hätte das ursprüngliche Manuskript stark gekürzt [auch wenn man heute weiss, dass diese Kürzungen nicht von Scheit kamen, sondern von Martin selbst autorisiert waren]. Es wurde mir gesagt, ich solle die Leeb-Version spielen, die Scheit-Version sei nicht originalgetreu. Wie siehst du das? 

HJ: Wie gesagt, die Scheit-Fassung ist von Martin selbst autorisiert. Wenn ich der Witwe von Frank Martin glaube, dann hat Martin am Ende gesagt, dass die Scheit-Fassung die endgültige Fassung ist [siehe auch Frau Martins Vorwort zur letzten Scheit-Ausgabe]. Wie es zu dieser Version gekommen ist, das ist eine andere Geschichte.  

 

MB: Über die verschiedenen Manuskripte ist eigentlich schon viel geredet und geschrieben worden. Was hat dich veranlasst, weiter zu forschen? Und wie ist es dann zum Besuch bei der Witwe von Frank Martin gekommen? 

HJ: 1996 habe ich meine erste CD «A Swiss Homage to Andrés Segovia» veröffentlicht, mit Kompositionen von den Schweizer Komponisten Frank Martin, Henri Gagnebin, Hans Haug und Ernst Widmer (Nur die Stücke von Widmer wurden nicht für Segovia komponiert). Die Kompositionen von Haug und Gagnebin wurden von Segovia in Konzerten gespielt und aufgenommen. Da ich davon ausging, dass ich diese CD für ein Fachpublikum mache, wollte ich versuchen so viel wie möglich über diese Stücke und den Komponisten zu recherchieren und zu erfahren. So habe ich mit deren Nachfahren Kontakt aufgenommen. Ich gelangte u.a. an Briefe, welche Segovia an Gagnebin schrieb, welche die Nachfahren von Henri Gagnebin noch in ihrem Besitz fanden. Und so habe ich versucht, von allen zu finden, was zu finden war. Ich habe dann auch Frau Martin besucht. Sie hat mich auf den Artikel von Jan de Kloe [im Magazin Soundboard 1993] über die QPB aufmerksam gemacht und gesagt, dass dieser Artikel der umfassendste sei, der bisher publiziert wurde. In diesem Artikel las ich dann, dass Jan de Kloe ein Manuskript von 1933 erwähnt, welches er bei einem Besuch bei Frau Martin sichten konnte. Ich habe sofort Frau Martin angerufen und sie hat mir anschliessend eine Kopie von diesem Bleistiftmanuskript zukommen lassen. Ich wollte das ganze Manuskript im Magazin Gitarre und Laute publizieren, aber Universal Edition hatte zu jenem Zeitpunkt bereits zwei Versionen auf dem Markt und wollte durch meine Veröffentlichung nicht gezwungen sein, nochmals eine neue Version rauszubringen. So habe ich die Stellen mit den grössten Abweichungen vom Leeb- Manuskript im Magazin Gitarre und Laute abdrucken dürfen und alle kleineren Abweichungen aufgelistet. 

Aus heutiger Sicht finde ich es merkwürdig, dass weder Jan de Kloe noch Frau Martin realisiert haben, welche Bedeutung dieses Manuskript hat. Dieses Manuskript ist unmittelbar vor dem Segovia-Manuskript entstanden und es gibt eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass dieses Manuskript sehr ähnlich, oder identisch mit der Segovia-Fassung ist. Obwohl Maria Martin Frank 1933 noch nicht kannte, schrieb sie mir, dass sie diesbezüglich sicher sei. Sie war bestens bekannt mit Martins Arbeitsweise: Er machte zuerst verschiedene Skizzen, schrieb dann ein Bleistiftmanuskript für sich und anschliessend fertigte er eine Reinschrift für Segovia an. Soweit die Angaben von Maria Martin. Mit Sicherheit können wir sagen, dass das Bleistiftmanuskript das älteste ist, und dass es zeitlich am nächsten zu der Segovia-Fassung entstand. 

 

MB: Wie ich bei meinen Recherchen gelesen habe, gab es davor ja bereits Kritik an Scheits Version, obwohl man heute weiss, dass Scheit und UE «korrekt» mit dem Werk umgegangen sind. Insofern kann man verstehen, dass UE nicht nochmals eine weitere Fassung publizieren wollte.   

HJ: Am Ende ist es jedem überlassen, welche Version er spielt, bis zu einem gewissen Grad. Wer die Leeb-Version spielen will, soll das machen. Die Scheit-Version war von Martin autorisiert und ist die Endversion (siehe QPB Partitur) [Martin fertigte auch für Klavier und für Orchester Fassungen an, nachdem er von Segovia keine Reaktion erhielt, anm.d. Red.]. Frau Martin kritisierte aber Versuche aus der Klavier- und Orchesterfassung die zusätzlichen Noten zusammenzusuchen, und diese in die Gitarrenversion einzubeziehen. 

 

MB: OK, das kann ich nachvollziehen. Und es ist ein Grund, warum ich das Manuskript von 1933 so wichtig finde: Wenn man zum Beispiel in der zweiten Hälfte des vierten Satzes das Motiv im Bass anschaut, dann geht das Motiv in der Version von 1933 noch durch, bereits im Leeb-Manuskript hat er das Motiv stark reduziert und bildet so kein kontinuierliches Muster im Bass mehr. Wahrscheinlich, weil er realisiert hat, dass es so nicht spielbar wäre. Es sieht an dieser Stelle so aus, als sei Martin anhand der gitarristischen Limitierung einen Kompromiss eingegangen. Dagegen sieht man im Manuskript von 1933 quasi noch in Reinform, ohne diese Kompromisse, wie er sich das Stück für Gitarre vorgestellt hat. Das war für mich schon eine spannende Entdeckung! Dass Martin dann für Klavier und Orchester andere arrangiertechnische Möglichkeiten nutzte, liegt in der Natur der Sache. Durch das Manuskript von 1933 haben wir aber eine Quelle, die klare Indizien gibt, was ihm für die Gitarre vorschwebte. Insofern macht es auch aus meiner Sicht wenig Sinn, wenn wir uns Richtung Klavier- und Orchesterversion verbiegen. 

Ich muss sagen, dass mir meine Auseinandersetzung mit dem ersten, von dir veröffentlichten Manuskript, noch mehr Verständnis für die kompositorischen Ideen gebracht hat. Diese hatten mir bei der Scheit-Version gefehlt. 

HJ:  Und das ist gut so. Vielleicht hätte Martin diese Stellen wirklich anders komponiert, wenn er frühzeitig einen Austausch mit Segovia oder einem anderen Gitarristen gehabt hätte. Aber das können wir letztlich nicht wissen.  



MB: Wie siehst du nun die Manuskripte im Vergleich? 

HJ: Für mich sind alle drei von Martin erhaltenen Manuskripte gleichwertig, die Scheit-Version, das Manuskript von Leeb und die Bleistift-Fassung von 1933. Alle 3 Versionen kamen direkt von Martin und wurden von ihm autorisiert. 

MB: Wir danken dir für das interessante Gespräch! Es war sehr spannend etwas über deine Sicht auf die Manuskripte der QPB zu erfahren und wünschen dir alles Gute für die Zukunft! 

Quellen:  

Das Manuskript von 1933 sowie die Briefe von Frau Martin an Han Jonkers befinden sich bei der Paul Sacher Stiftung in Basel, wo ein Grossteil des Nachlasses von Frank Martin verwaltet wird. Die Sammlung ist öffentlich zugänglich. 

«Frank Martin: Quatre Pièces Brèves – Das älteste Manuskript von 1933 wird zum ersten Mal auszugsweise veröffentlicht» von Han Jonkers, Erschienen in Gitarre und Laute, Heft 2/1998, heute zu finden auf: https://hanjonkers.com/fachzeitschriften/ 

«Martin's `Quatre pièces brèves» von Jan J. de Kloe, erschienen in Soundboard (journal of the Guitar Foundation of America, 1993) – heute noch zugänglich über: https://www.guitarfoundation.org/page/DigDownload20Pres 

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