Als Piazzolla sein Notitzbuch nach dem Publikum warf…
Zum 100. Geburtstag von Astor Piazzolla
„I have to tell the most absolute truth.
I could make it a story of angels,
but that would not be the true story. Mine is one of the devils mixed with angels, and some miserliness.
One must have a bit of everything
To move forward in life.“
(Astor Piazzolla, 1990)
Von Michael Boner
Als ein Musiker, der bereits als Kind sowohl von klassischer Musik als auch von Jazz und Pop stark beeinflusst wurde, war es für mich wohl unweigerlich so, dass ich bereits im Gymnasium als klassischer Gitarrist eine starke Verbundenheit zu den Kompositionen Piazzollas aufbaute, zumal dessen grosse Präsenz in der klassischen Gitarrenwelt wohl für alle unübersehbar ist. Zum 100. Geburtstag von Astor Piazzolla wollte ich mich nun mit dem Werk und der Biografie dieses Komponisten, der irgendwie nur bedingt in eine stilistische Schublade passt, auseinandersetzen. Wie kam es zu dem musikal- ischen Stilmix, zur Verbindung von klassischen Kompositionskonzepten und Harmonie- und Improvisationselementen des Jazz, die dabei im Rahmen des argentinischen Tango zu einem unverkennbaren, hermetischen neuen Stil verknüpft wurden?
Interessant dabei ist, dass Biografien Piazzollas beschreiben, dass er in Argentinien lange nicht als der Komponist angesehen war, als der er vom Rest der Welt bereits gefeiert wurde. Noch bis in die 1980er Jahre spielte er in Buenos Aires in Jazz-Clubs vor 50 Leuten während er im Rest der Welt die grossen Konzertsäle füllte. Aber genau wie mit Piazzolla, war es mit dem Tango generell. Die wohlhabenden Familien in Argentinien fingen erst an den Tango zu akzeptieren als dieser bereits den Rest der Welt eroberte. Tango galt damals als Musik der Arbeiterschicht, und war stark in den zwielichtigen Vierteln von Buenos Aires zuhause, kam dann aber auf unbekanntem Weg nach Europa und wurde vor allem in Paris ab 1910 gefeiert.
Astor Piazzolla wurde 1921 als Sohn eines Barbers und einer Coiffeuse in eben genannter Arbeiterschicht geboren. Den grössten Teil seiner Jugend lebte Piazzolla aber nicht in Argentinien, sondern in den armen Arbeitervierteln von New York, die in jener Zeit von Mafiosi und Strassengangs dominiert wurden. Der junge Piazzolla adaptierte sich gekonnt in jenem Milieu und war in seinem Freundeskreis für seinen linken Haken bekannt, er flog mehrmals wegen Schlägereien von Schulen. Während Vicente Piazzolla, der Vater Astors, wohl auch aus Sehnsucht nach seinem Heimatland zuhause sehr viel Tango abspielte, interessierte sich Astor Piazzolla bereits jung sowohl für Jazz wie auch für klassische Musik. Aus retrospektiver Sicht stellte sich wohl die Begabung Piazzollas, alle Klänge, die er aus seinem Umfeld wahrnahm, aufzusaugen und intuitiv zu seinem späteren Kompositionsstil zusammenfliessen zu lassen, als seine grösste Begabung heraus. So haben wohl auch Elemente von jüdischen Liedern, die Piazzolla auf den Strassen New Yorks vernahm, bewusst oder unbewusst ihren Weg in seine Musik gefunden. Als Piazzollas Familie in seinem sechzehnten Lebensjahr nach Mar del Plata in Argentinien zurückkehrte, landete Piazzolla in einem musikalischen Umfeld das in einem aktiven Wandel, in einer Aufbruchsstimmung war und Piazzolla selber beschreibt, dass er erst hier richtig von der Leidenschaft für den Tango erfasst wurde. So zog er als junger Mann mit seinem Bandoneon nach Buenos Aires um in Tangoorchestern Abend für Abend bis spät in der Nacht in Cabarets zu spielen. Bei den Bewerbungsvorspielen für die Orchester spielte Piazzolla dabei oft auch Mozart und Gershwin vor. In den Cabarets war jedoch keine musikalische Vielfalt gefragt, sondern traditioneller Tango. In diesem Umfeld fing sich Piazzolla an zu langweilen. Mit Alkohol, Drogen und gewaltsamen Auseinandersetzungen Abend für Abend war es ein toxisches Umfeld für einen jungen Mann. Piazzolla flog mehrfach aus den Orchestern, wurde aber mehr und mehr gefragt als Arrangeur und Komponist für ebendiese Gruppen.
Schliesslich bekam er Aufträge als Komponist für Filmmusik. Diese Zeit war der Beginn des Kompositionsstils, den wir heute von Piazzolla kennen. Er verband den Tango mit Kontrapunkt und Jazz-Harmonien. Piazzolla nahm Kompositionsunterricht bei Alberto Ginastera und als er in Argentinien bereits einige Erfolge als Komponist errungen hatte, folgte dank eines Stipendiums ein Studium bei Nadja Boulanger in Paris. Laut Erzählung von Piazzolla öffnete sie ihm die Augen und brachte ihn dazu seine Auseinandersetzung und die Modernisierung des Tangos fortzusetzen. Dabei erfuhr er aber von der Tangoszene eine starke Ablehnung. Astor Piazzolla selber war daran aber wohl auch nicht unschuldig. Vielfach wird er als nicht ganz einfacher Charakter beschrieben: „Astor had a great sense of humour. He was a great raconeur. He was great fun to be with. But he was also very difficult.“ sagte sogar sein Biograf Natalio Gorin über ihn. Und so war die Ablehnung zwischen Piazzolla und der traditionellen Tangoszene wohl auch gegenseitig. Einen Satz, den er am Ende seiner Konzerte in Argentinien immer wieder hören musste, war, ob er nun nicht auch noch einen Tango spielen könnte. Piazzolla selber beschreibt, dass er das erste Mal als er diese Frage am Schluss eines Konzertes hörte, ein Notizbuch nach dem Fragenden warf. Diese Charakterzüge scheinen in Anbetracht des Milieus in New York und Buenos Aires, das Piazzolla miterlebt hatte, nicht verwunderlich.
Gleichzeitig führten Piazzollas musikalische Besessenheit und sein Talent als Arrangeur und Komponist dazu, dass er oft auf die talentiertesten Instrumentalisten in seinen Formationen zählen konnte. In seinen jüngeren Jahren war unter anderem Anibal Troilo, für viele die ikonische Figur des klassischen Tango, einer seiner Mentoren. Später zählten zum Beispiel der Geiger Antonio Agri und der Jazz-Gitarrist Horacio Malvicino zu langjährigen Mitmusikern von Piazzolla. Nach dem Tod von Anibal Troilo 1975 komponierte Piazzolla die Suite Troileana für sein Octeto Electronico in dem damals auch Agri und Malvicino mitspielten. Für mich persönlich zeigen einige in schlechter schwarzweiss Qualität aufgenommene alte Live-Fernsehaufnahmen des Quintetts (heute auf YouTube) die Quintessenz von Piazzollas Musik: der Drive, den das Oktett entwickelt, die fliessenden Übergänge von rasanten rhythmischen Teilen hin zu Stellen die ruhig und sehr frei sind, irrwitzige, zum Teil kontrapunktische Melodien und Improvisationen sowie harmonisch und rhythmisch raffinierte Kompositionsstrukturen. Das agile Zusammenspiel wirkt als wäre es das einfachste der Welt.
Wichtigste Formationen waren für Piazzolla neben dem Oktett, das Quintett, sowie für kurze Zeit ein Nonett. Piazzolla war es wichtig auch Teil der Formationen zu sein und seine Musik im Austausch mit den Musikern zu entwickeln. So war er weltweit sehr viel auf Tour. Etwas weniger bekannt ist, dass Piazzolla auch immer wieder mit Dichtern zusammenarbeitete und Lieder komponierte. Unter anderem schrieb er zu Texten von Horacio Ferrer, mit dem ihm eine lange Zusammenarbeit verband, die Oper „Maria de Buenos Aires“. Ferrers Texte sind surreal und komplex, weshalb die Oper ausserhalb Argentiniens zu den eher weniger bekannten Werken Piazzollas zählt. Weitere Kollaborationen hatte Piazzolla mit Dichtern wie Jorge Luis Borges, Pablo Neruda oder Julio Cortázar. Astor Piazzolla erlitt 1990 einen Schlaganfall auf einer Konzertreise in Paris und starb zwei Jahre später in Buenos Aires. So komplex sein Charakter war, so vielschichtig klingt seine Musik bis heute. Die Melancholie des Tango erhielt durch Piazzollas unbeirrten Willen diesen Musikstil weiterzuentwickeln mehr Dimensionen und wird seit Jahren von Tango-, Jazz- und klassischen Musikern gleichermassen gespielt.
Zum Schluss dieses Artikels möchte ich das Buch, auf dem ein grosser Teil dieses Artikels beruht, empfehlen: Astor Piazzolla – A Manera de Memorias von Natalio Gorin, erschienen in der englischen Fassung Astor Piazzolla – A Memoir 2001 bei Amadeus Press, Portland (USA).
Dazu möchte ich auch noch einen CD-Tipp geben: der in der Schweiz lebende argentinische Gitarrist Julio Azcano stellte mit der Sängerin Marcela Arroyo Lieder von Piazzolla zusammen und arrangierte sie für Gitarre und Gesang. Die daraus resultierte, 2014 veröffentlichte CD „New Tango Songbook“ transportiert die Seele von Piazzollas Musik in brillanter Umsetzung mit bisher kaum gehörten Stücken.